Zunächst möchte ich Ihnen allen für Ihre Teilnahme an der heutigen Online-Veranstaltung danken. Ursprünglich war dieses Treffen für Juni 2020 geplant, und Kim Behan und ich hatten geplant, zu dieser Veranstaltung nach Hamburg zu kommen. Ich hatte sogar schon ein Flugticket gekauft. Damals sahen wir jedoch den Ausbruch des Coronavirus nicht voraus und können nun alle Veranstaltungen nur noch online durchführen.
Roland Müller hat bereits schon über die Hintergründe gesprochen, die zur Entstehung von MiA (Mitgefühl in Aktion e.V.) geführt haben, aber ich möchte hier zunächst meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass diese Zusammenarbeit stattfindet. Mein besonderer Dank gilt der Kerngruppe von Personen, die zur Gründung von MiA beigetragen haben und die die Arbeit von MiA leiten. Ich bin auch dankbar, dem Verein MiA als Schirmherr dienen zu dürfen, was eine große Ehre für mich bedeutet.
Ich möchte gerne ein wenig über das Entstehen der Buddhist Global Relief sprechen und die Einstellung, die unsere Arbeit bestimmt. Die Saat der BGR wurde bereits 2007 gelegt, als die nordamerikanische buddhistische Zeitschrift Buddhadharma mich bat, einen redaktionellen Beitrag für ihre Sommerausgabe zu schreiben. Als ich mich hinsetzte, um diesen Essay zu schreiben, dachte ich, ich sollte meine Gedanken zum Ausdruck bringen über die Richtung, in die der Buddhismus in den Vereinigten Staaten und im Westen im weiteren Sinne eingeschlagen hat, ebenso darüber, in welche Richtung er sich meiner Meinung nach bewegen sollte.
Im Jahr 2002 kam ich zurück in die USA, nachdem ich 20 Jahre lang als Mönch in Asien, hauptsächlich Sri Lanka, gelebt hatte. Nach meiner Rückkehr stellte ich fest, dass der amerikanische Buddhismus seinen Schwerpunkt fast ausschließlich auf die Meditationspraxis legte. Die Menschen glaubten, die Ausübung des Buddhismus sei ausschließlich Meditation zu praktizieren, ob Vipassana, Zen oder eine der Formen der tibetischen Meditation. Die Praxis der Meditation ist natürlich zentral im Buddhismus. Und ohne Meditation wäre das Herz des Dharma verloren. Aber es schien mir, dass Menschen, die den Buddhismus annahmen, sich zu sehr auf Meditation konzentrierten und die umfassenderen ethischen Aspekte des Dharma vernachlässigten.
Als ich in die USA zurückkehrte, machte ich mich mit dem Internet vertraut, zu dem ich in Sri Lanka keinen Zugang hatte. Jeden Tag las ich mehrere Nachrichten-Websites, und die Berichte, die ich las, erinnerten mich ständig an die schreckliche Last des Leidens, die auf Menschen auf der ganzen Welt lastet, selbst in den USA, dem reichsten Land der Menschheitsgeschichte. Ich las über Naturkatastrophen, Wirbelstürme, Erdbeben, den südasiatischen Tsunami, politische Tyrannei, die US-Kriege im Irak und in Afghanistan; über Hunger und Hungersnot, Armut, Bürgerkriege, Gewalt gegen Frauen und andere Arten sozialer Ungerechtigkeit.
Es schien mir, dass wir Buddhisten, wenn wir die Anforderungen liebender Güte und des Mitgefühls erfüllen wollen, eine aktivere Position im Bereich des sozialen Handelns einnehmen müssen. Ich sah dies als eine zutiefst moralische Herausforderung, der sich der Buddhismus stellen muss, wenn er auch in Zukunft seine Relevanz behalten will. Andernfalls könnte es passieren, dass der Buddhismus zu einem „intellektuellen Spielzeug“ einer wohlhabenden, privilegierten Elite wird, die vor dem unermesslichen Leid der Menschheit die Augen verschließt. So wie ich es sah, reichte es nicht aus, in der Behaglichkeit unserer Schrein-Räume und Meditations-Zentren liebevolle Güte und Mitgefühl zu entwickeln. Wir müssen diese Qualitäten auch als Motive für sozial-transformierende Maßnahmen nutzen. In meinem Aufsatz schrieb ich:
„Eine besondere Herausforderung für den Buddhismus in unserer Zeit besteht darin, sich als Anwalt für Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen, für die Opfer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit, die nicht aufstehen und für sich selbst sprechen können. Dies ist meiner Ansicht nach eine zutiefst moralische Herausforderung, die einen Wendepunkt in einer modernen Übertragung des Buddhismus markiert. Dies weist in eine Richtung, die der heutige Buddhismus einschlagen sollte, wenn er an dem Wirken des Buddha für die Menschheit teilhaben will.“
Als diese Ausgabe des Buddhadharma-Magazins veröffentlicht wurde, lasen mehrere meiner Freunde und Schüler diesen Artikel. Sie sprachen mit mir darüber, und wir begannen zu diskutieren, wie wir dieser „besonderen Herausforderung, die sich dem heutigen Buddhismus unserer Zeit stellt“ begegnen können. Nach einigen Diskussionsrunden beschlossen wir, eine buddhistische Hilfsorganisation zu gründen. Es schien eine extrem idealistische Idee zu sein, und zunächst waren wir unsicher, was genau eine solche Hilfsorganisation tun könnte. Ich schlug vor, dass wir uns auf das Problem des Hungers und der Unterernährung konzentrieren sollten.
Dieser Vorschlag beruhte auf meinen eigenen Erfahrungen während meiner ersten beiden Jahre als Mönch in Sri Lanka, in den Jahren 1972 bis 1974. Zu dieser Zeit befand sich Sri Lanka in einer Phase wirtschaftlicher Umgestaltung, die einen hohen Tribut von der Bevölkerung forderte. In dem Kloster, in dem ich lebte, in einem armen Teil des Landes, musste ich oft mit einer spärlichen Ernährung auskommen. Das Frühstück war ein wässriger Reisbrei, das Mittagessen bestand aus Reis und leichtem Gemüse, und nach zwölf Uhr mittags gab es nichts mehr zu essen. Während dieser Zeit lernte ich aus erster Hand, wie Hunger sich anfühlt. Es war nicht nur der Hunger, den man verspürt, wenn man ein paar Mahlzeiten auslässt. Es war der Hunger, den man erlebt, wenn man Monat für Monat nicht genügend nahrhafte Lebensmittel erhät, so dass sogar die Zellen des Körpers nach den fehlenden Nährstoffen zu schreien scheinen.
Die BGR begann mit einer kleinen Gruppe engagierter Menschen, die Mitgefühl in Aktion umsetzen wollten. Wir erhielten einige großzügige Spenden, wodurch wir ein Bankkonto mit 20.000 US-Dollar eröffnen konnten. Damit starteten wir drei Pilotprojekte in Sri Lanka, Vietnam und Myanmar. Wir machten diese auf unserer Website bekannt und veröffentlichen einen regelmäßigen Newsletter. Es dauerte nicht lange, bis wir weitere Spenden und mehr freiwillige Unterstützung erhielten, wodurch wir die Anzahl und Reichweite unserer Projekte ausweiten konnten. In den letzten Jahren arbeiteten wir mit einem Projektbudget von etwa 600.000 US-Dollar und unterstützten über 40 Projekte in der ganzen Welt. Wir hoffen, dass wir in Zusammenarbeit mit MiA (Mitgefühl in Aktion e.V.) noch mehr Projekte realisieren und die Unterstützung bestehender Projekte auf ein höheres Niveau anheben können.
Ich beschreibe die Einstellung, die hinter der Arbeit von BGR steht, gerne mit dem Ausdruck „conscientious compassion“, (übertragen:) verantwortungsbewusstes Mitgefühl. Dieser Ausdruck bringt zwei Eigenschaften zusammen. Die Grundlage ist natürlich Mitgefühl, das Gefühl, das entsteht, wenn unsere Herzen durch das Leiden anderer tief bewegt werden. Die andere Komponente wird hier durch das Wort „conscientious“ angedeutet, das auf dem lateinischen Wort für „Gewissen“ basiert. Mit Gewissen meine ich nicht das Schuldgefühl, das entsteht, wenn wir etwas Falsches tun, sondern den inneren Zwang, gemäß unserer Wahrnehmung dessen zu handeln, was richtig und notwendig ist, als Antwort auf die ethischen Forderungen unserer Situation in der Welt. Verantwortungsbewusstes Mitgefühl bedeutet also erstens, dass unsere Herzen von Mitgefühl bewegt werden, wenn wir miterleben, wie andere leiden. Und zweitens sagt uns unser „voice of conscience“ (die Stimme unseres Gewissens), anders ausgedrückt, unser Empfinden für Mitverantwortung, dass wir Maßnahmen ergreifen sollten, um ihr Leiden zu lindern.
Verantwortungsbewusstes Mitgefühl hat seine Wurzeln in grundlegenden Eigenschaften, die vom Buddha-Dharma betont werden, wie liebende Güte, Mitgefühl und Großzügigkeit. Es wurzelt aber auch in einem tiefen Engagement für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Obwohl die Betonung der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit ihre Wurzeln im modernen Denken hat, ist sie dem Dharma nicht völlig fremd. Ein Aspekt des Wortes Dharma ist in der Tat der der „Gerechtigkeit“. Es heißt, dass der sogenannte „Rad drehende Weltenherrscher“ sein Reich in Übereinstimmung mit dem Dharma regiert, was bedeutet, dass er gerecht für das Wohlergehen und Glück aller in seinem Reich regiert, sogar der Vögel und Kriechtiere. Heute haben wir keinen Rad drehenden Weltenherrscher an der Spitze unserer Regierung, also müssen wir selbst handeln, um sicherzustellen, dass das Dharma der Gerechtigkeit in der Welt vorherrscht.
Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass es große Wohlstandsunterschiede zwischen einer kleinen, mächtigen Finanz-Elite und den Massen von Menschen gibt, die am Rande des Überlebens sind. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass einige in extremem Luxus leben, während zwei Milliarden Menschen hungern oder unterernährt sind. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass Arbeiter selbst in den USA ständig Überstunden leisten müssen, aber keinen existenzsichernden Lohn erhalten; dass Milliarden von Menschen keine medizinische Grundversorgung erhalten; dass Kinder nicht zur Schule gehen können, sondern hart arbeiten und sogar in Kriegen mitkämpfen müssen. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe mit langen Haftstrafen ins Gefängnis gesteckt oder von der Polizei getötet werden; dass Flüchtlinge, die Zuflucht vor gewalttätigen Regimes suchen, in Käfige gesteckt oder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden, wo sie Todesschwadronen gegenüberstehen. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit hier in Amerika, dass Hunderte von Milliarden Dollar in die Produktion von Kriegswaffen fließen, während Millionen von Kindern hungrig zu Bett gehen.
Ein Aspekt unserer Hilfprojekte bedarf besonderer Erwähnung. Wenn die Menschen erfahren, dass wir uns auf die Linderung von Hunger und Unterernährung konzentrieren, stellen sie sich vor, dass es bei diesen Projekten darum geht, Nahrungsmittel direkt an hungernde Menschen zu verteilen. Mehrere unserer Projekte arbeiten auf diese Weise, und unter bestimmten Umständen ist diese Art der Hilfe absolut notwendig. Die direkte Nahrungsmittelhilfe ist jedoch nur ein Aspekt unseres Auftrages, und nicht der wichtigste. Das Wichtigste ist, Menschen in die Lage zu versetzen, die ihnen innewohnende menschliche Würde zu erkennen und auf Grundlage dieser Anerkennung handeln zu können. Dazu müssen die Menschen in die Lage versetzt werden, für sich selbst sorgen zu können. Wir wollen Menschen nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis einsperren, sondern ihnen helfen, autark und unabhängig zu werden. Mit anderen Worten: Wir wollen Menschen helfen, sich selbst helfen zu können.
Der Schlüssel bei der Hilfe zur Selbsthilfe liegt in der allgemeinen und beruflichen Bildung. Wenn Kinder gut ausgebildet sind, werden sie im Erwachsenenalter in der Lage sein, sich und ihre Familien besser zu versorgen. Mädchen, die gut ausgebildet sind, werden in ihren Familien und Gemeinschaften stärker respektiert, haben weniger Kinder und tragen mehr zum Unterhalt ihrer Familien bei. Das Gleiche gilt, wenn Frauen mehr an ihren Arbeitsplätzen verdienen oder eigene Unternehmen zum Lebensunterhalt gründen können. Deshalb legen wir in unserer Arbeit einen Schwerpunkt auf die Bildung für Mädchen und die Berufsausbildung für Frauen. Diese Projekte bieten die Instrumente, die den Menschen helfen, der Armutsfalle zu entkommen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen.
Meines Erachtens ist es heute unsere Aufgabe als Buddhisten, die Kultivierung innerer Werte mit transformativem Handeln im Äußeren zu verbinden. Das Lebenselixier des Dharma ist die Entwicklung, Reinigung und Befreiung des Geistes, und dies kann nicht vernachlässigt werden, ohne den Dharma zu gefährden. Aber ebenso können wir nicht unseren Blick vom Leiden in der Welt abwenden, ohne die ethischen Anforderungen des Dharma zu verraten. Stattdessen müssen wir innere Entwicklung und soziales Handeln in Einklang bringen. Wir sollten daher die durch innere Entwicklung gewonnene spirituelle Kraft - die Kraft der Weisheit, Freundlichkeit und des Mitgefühls - nutzen, um uns in der Arbeit zu stärken, die eine andere Art von Welt, nämlich eine gerechtere, ermöglicht, eine Welt, die sicherstellt, dass niemand unnötig leidet, eine Welt, die jedem die Chance gibt, zu gedeihen und in Würde zu leben. Das sehe ich als den größten Auftrag in der Partnerschaft zwischen Buddhist Global Relief und Mitgefühl in Aktion e.V.
Dr. Ven. Bhante Bhikkhu Bodhi, Chairman der BGR und Schirmherr von Mitgefühl in Aktion
(aus dem Amerikanischen übersetzt von R. Hopf)