Die Flut der Gewalt zurückdrängen

 

Vesak Botschaft 2021 unseres Schirmherrn Ven. Bhikkhu Bodhi, 26.5.2021

 

Wir leben in einer gewalttätigen Welt, einer turbulenten Welt, in der sich der Kreislauf des Tötens und Verstümmelns, der Wut und der Rache ohne Ende zu drehen scheint. In den letzten Monaten haben wir in den USA wütende junge Männer gesehen, die mit Sturmgewehren bewaffnet waren und Amok liefen. Wir haben Ausbrüche von rassistischem und ethnischem Hass erlebt, den Aufstieg von Rechtsextremisten und sogar einen gewalttätigen Angriff auf das Kapitol unserer Nation. Die internationale Szene ist kaum besser, denn wir lesen von terroristischen Bombenanschlägen, tödlichen Blockaden und einer neuen Welle von zerstörerischen Konflikten im Nahen Osten, die das Leben von palästinensischen und israelischen Zivilisten fordern. 

 

Die Zerstörung von Menschenleben löst niemals das Problem, das sie lösen soll, und ihre Folgen sind immer tragisch. Es dauert nur ein paar Sekunden, den Abzug einer Waffe zu betätigen, aber für diejenigen, die einen geliebten Menschen durch die Kugeln verlieren, dauert der Herzschmerz ein Leben lang. Eine Bombe auf einem überfüllten Markt geht in Sekundenschnelle hoch, aber sie hinterlässt weinende Familien. Ein Luftangriff auf eine überfüllte Stadt dauert weniger als eine Stunde, aber der Schmerz der Eltern, die ein Kind verlieren, der Kinder, die ihre Eltern verlieren, des Mannes oder der Frau, die ihren geliebten Partner verlieren, heilt nie. Auf die Spur des Tötens folgt nur Schmerz, Herzschmerz und unstillbare Trauer!

 

Die Frage, über die wir alle nachdenken sollten, lautet: Wie können wir diesem Strudel von Hass und Zerstörung ein Ende setzen? Wie können wir eine Welt des Friedens aufbauen, ohne Krieg und Gewalt? Wie können wir unsere eigene Menschlichkeit zurückgewinnen, die Gefahr läuft, durch dieses Übermaß an Gewalt und Töten ausgelöscht zu werden?

 

Licht auf diese Fragen kommt vom Buddha, dessen Geburt, Erleuchtung und Nirwana wir am Vesak, dem Vollmondtag im Mai, feiern. Der Buddha führt die heikelsten Probleme des menschlichen Lebens auf ihre tiefsten Wurzeln im Geist zurück. Welche bösen Taten es auch immer gibt, sagt er, sie haben alle ihren Ursprung im Geist, und deshalb müssen sie letztendlich im Geist ausgelöscht werden. Das gilt auch für das Töten, das aus Hass und Groll geboren wird.

 

Der Weg zur Überwindung des Hasses ist lang und schwierig, aber er beginnt mit etwas, über das wir direkte Kontrolle haben, nämlich mit unserem Verhalten. Die Grundlage des Pfades des Buddha ist das Führen eines moralischen Lebens, eines Lebens, das von Gelübden bestimmt wird, und das erste Gelübde im Moralkodex des Buddha ist, sich der Zerstörung von Leben zu enthalten - der Zerstörung allen empfindungsfähigen Lebens, ob Mensch oder Tier. 

 

Dieses Gelübde hat weitreichende Auswirkungen. Als Übungsregel wird es einfach als "sich der Zerstörung von Leben enthalten" angegeben, aber in einer erweiterten Version sagt der Buddha, dass man sich selbst der Zerstörung von Leben enthalten soll, andere ermutigen soll, sich des Tötens zu enthalten, die Enthaltsamkeit vom Töten loben soll und sich freuen soll, wenn man erfährt, dass andere sich der Zerstörung von Leben enthalten. 

 

Um den Grund für dieses Gelübde zu verstehen, müssen wir zunächst einen einfachen Akt der Introspektion durchführen. Wenn wir in unseren eigenen Geist schauen, können wir sehen, dass unser grundlegendster Drang zu leben ist, dass wir instinktiv vor dem Tod und vor allen Bedrohungen für unser Überleben zurückschrecken. Auf der Grundlage dieses einfachen Akts der Reflexion können wir sofort erkennen, dass jeder andere Mensch - ob ein lieber Mensch oder ein Fremder, ob von unserer eigenen Rasse oder einer anderen Gruppe, ob von unserer eigenen Religion oder einer anderen Religion - in ähnlicher Weise den Tod vermeiden möchte. Wir können intuitiv begreifen, dass jeder andere Mensch leben will, und zwar gut leben will. 

 

Diese Überlegung weckt in uns ein tiefes Gefühl der Empathie mit der gesamten Menschheit, und in der Tat mit allen anderen fühlenden Wesen. Die Scheuklappen der Selbstbezogenheit fallen ab, so dass wir uns selbst in anderen und andere in uns selbst sehen können. Dieses Gefühl der Empathie manifestiert sich als ein Gefühl der Solidarität, eine enge Identifikation mit anderen, die in uns das Bestreben weckt, ihr Leben zu schützen, die Hindernisse für ihr Wohlergehen zu beseitigen und ihnen zu helfen, zu gedeihen und ihr volles Potenzial zu verwirklichen. 

 

Es ist für uns als Einzelne unmöglich, all die Gewalt und willkürliche Zerstörung zu beseitigen, die wir überall um uns herum erleben. Aber indem wir ein Leben der Gewaltlosigkeit führen, können wir einen Unterschied machen; wir können zu einer friedlicheren und harmonischeren Welt beitragen. Wenn wir uns fest an das Gelübde des Nicht-Tötens halten und einen Geist der Liebe und des Mitgefühls für die gesamte Menschheit und alle fühlenden Wesen kultivieren, werden wir zu einer Insel des Friedens und der Ruhe inmitten der Turbulenzen. Wir werden ein Licht in der Dunkelheit werden, eine Quelle des Segens und des guten Willens, die in die ganze Welt hinausfließt. 

 

Wenn sich genug von uns zu einem Leben der Gewaltlosigkeit, der Liebe und des mitfühlenden Handelns verpflichten, könnte es uns gelingen, eine Gegenströmung zur Flut der zerstörerischen Gewalt in Gang zu setzen, die uns verschlingt und so viel Leid bringt. Wir könnten alte Feindschaften in eine Feier unserer essentiellen Einheit verwandeln, uns über Grenzen hinweg die Hände reichen und ein paar kleine Schritte in Richtung des Zustandes des globalen Friedens machen, nach dem wir uns sehnen.

 

Wir wünschen Ihnen allen ein glückliches und friedliches Vesak!

 

 

Text des engl. Originals:

 

Turning Back the Tide of Violence

 

A Vesak Message for 2021 by Ven. Bhikkhu Bodhi

 

We live in a violent world, a tumultuous world where the cycle of killing and maiming, of rage and revenge, seems to turn without any end in sight. In the U.S. over the past few months we have seen angry young men equipped with assault rifles going on mass killing sprees. We’ve seen outbursts of racial and ethnic hatred, the rise of right-wing extremists, even a violent attack on our nation’s Capitol building. The international scene is hardly better, as we read about terrorist bomb attacks, lethal blockades, and a new surge of destructive conflict in the Middle East, claiming the lives of both Palestinian and Israeli civilians. 

 

The destruction of human life never solves the problem it is intended to resolve, and its consequences are always tragic. It takes just a few seconds to pull the trigger of a gun, but for those who lose a loved one to the bullets, the heartache lasts a lifetime. A bomb in a crowded market goes off in seconds, but it leaves behind weeping families. An air raid on a congested city takes less than an hour, but the anguish felt by the parents who lose a child, the children who lose their parents, the husband or wife who loses their beloved partner, never heals. In the trail of killing there follows only pain, heartache, and unquenchable grief!

 

The question we should all ponder is: how do we bring this whirlpool of hatred and destruction to an end? How can we build a world of peace, without war and violence? How can we recover our own humanity, at risk of being erased by this excess of violence and killing?

 

Light on these questions comes from the Buddha, whose birth, enlightenment, and nirvana we celebrate on Vesak, the full-moon day of May. The Buddha traces the most thorny problems of human life to their deepest roots in the mind. Whatever evil deeds there are, he says, all originate in the mind, and therefore they must ultimately be extinguished in the mind. This applies as well to killing, which is born from hatred and resentment.

 

The path to conquering hatred is long and difficult, but it begins with something over which we have direct control, namely, our conduct. The foundation of the Buddha’s path is the living of a moral life, a life governed by precepts, and the first precept in the Buddha’s moral code is to abstain from destroying life—from the destruction of all sentient life, whether humans or animals. 

 

This precept has far-reaching implications. As a rule of training, it is stated simply as “abstaining from the destruction of life,” but in a more expanded version the Buddha says that one should refrain from destroying life oneself, encourage others to refrain from killing, speak in praise of abstinence from killing, and rejoice when one learns that others abstain from destroying life. 

 

To understand the reason for this precept requires that we first perform a simple act of introspection. When we look into our own mind, we can see that our most basic urge is to live, that we instinctively recoil from death and from all threats to our survival. On the basis of this simple act of reflection, we can immediately realize that every other person—whether a dear one or a stranger, whether of our own racial group or another group, whether of our own religion or another religion—similarly wishes to avoid death. We can intuitively grasp that every other person wants to live, and to live well. 

 

This reflection awakens in us a deep sense of empathy with all humanity, and indeed with all other sentient beings. The blinkers of self-absorption fall away, so that we can see ourselves in others and others in ourselves. This sense of empathy manifests as a feeling of solidarity, a close identification with others, inspiring in us the effort to protect their lives, to remove the obstacles to their well-being, and to help them thrive and realize their fullest potentials. 

 

It is impossible for us in our individual capacity to eliminate all the violence and random destruction we witness all around us. But by living a life of harmlessness we can make a difference; we can contribute to a more peaceful and harmonious world. If we firmly hold to the precept of not-killing and cultivate a mind of love and compassion for all humanity and all sentient beings, we will become an island of peace and tranquility in the midst of the turbulence. We will become a light in the darkness, a source of blessings and good will flowing out to the whole world. 

 

If enough of us commit ourselves to a life of non-violence, to love and compassionate action, we might just succeed in setting in motion a counter-current to the tide of destructive violence that engulfs us and brings so much grief. We might transform old enmities into a celebration of our essential unity, join hands across boundaries, and take a few small steps toward the state of global peace for which we yearn.

 

We wish you all a happy and peaceful Vesak!