Unsere Prioritäten richtig setzen

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Bhikkhu Bodhi, Gründer und Vorsitzender von Buddhist Global Relief und Schirmherr von Mitgefühl in Aktion e.V. zur gegenwärtigen Welthunger-Situation:

Was bedeutet es für uns als Dharma-Praktizierende, hier und heute in dieser Welt Mitgefühl zu praktizieren? Reicht es aus, jedem Menschen mit freundlichen Gefühlen zu begegnen und gelegentlich unsere Hilfe anzubieten? Oder fordern die ethischen Gebote des Dharma uns auf, mehr zu tun, aktiv auf das bedrängende Leiden so vieler Menschen auf diesem Planeten zu reagieren? Welche Prioritäten sollten wir uns im Leben setzen – als Individuen, aber auch als Bürgerinnen und Bürger? 

 

Diese Fragen wurden für mich letzte Woche durch zwei Nachrichten, die meine Aufmerksamkeit erregten, besonders aktuell. Sie erinnerten mich eindringlich daran, dass wir uns mit der schrecklichen Lage auseinandersetzen müssen, in der sich viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt befinden – die oft genug auch mit der Politik unseres eigenen Landes und unserer eigenen tief verwurzelten Gleichgültigkeit gegenüber der Notlage der Menschen in fernen Ländern zusammenhängt.

 

Ein Beitrag in der 'PBS Newshour' befasste sich mit der immer mehr eskalierenden Hungersnot in Afghanistan. Afghanistan ist seit langem eines der ärmsten Länder der Welt, ein Land mit einer dahinsiechenden Wirtschaft, dessen Bevölkerung jahrzehntelang gewaltsame Konflikte durch rivalisierende militante Gruppen ertragen musste. Vor zwei Jahren kamen die Taliban erneut an die Macht und errichteten einen islamistisch-theokratischen Staat, der die rückschrittlichste Auslegung der Scharia vertritt. Die von den Taliban verfolgte Politik hat für Frauen besonders katastrophale Folgen. Frauen müssen ihren Körper von Kopf bis Fuß vollständig bedecken, es ist ihnen verboten, außerhalb des Hauses zu arbeiten, und Mädchen dürfen keine über die Grundschule hinausgehende Ausbildung absolvieren. Als Reaktion darauf hat die internationale Gemeinschaft harte Wirtschaftssanktionen gegen Afghanistan verhängt und das Land in die diplomatische Isolation getrieben.

 

Eine Folge dieser politischen Strategie ist, dass das afghanische Volk eine quälende Hungersnot erleidet. Fünfzehn Millionen Afghanen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - kämpfen darum, jeden Tag genug zu essen zu bekommen. Dreizehn Millionen waren vollkommen abhängig vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Doch erst kürzlich musste das WFP aufgrund eines Finanzierungsdefizits sein Engagement so kürzen, dass nur noch drei Millionen Menschen Nahrung erhalten. Damit haben zehn Millionen Menschen keinen gesicherten Zugang zu Nahrungsmitteln mehr, und das ausgerechnet jetzt, wo der Sommer zu Ende geht und die Winterstürme beginnen.

 

Hsiao-Wei Lee, der WFP-Länderdirektor, sagt, die Organisation stehe nun vor der schwierigen Entscheidung, „zwischen Familien, die hungern, und solchen, die verhungern, zu wählen“. Viele Familien können nur einmal am Tag etwas essen. Das Leid afghanischer Eltern wird durch die Aussage einer Frau in einem Bericht von ‚Save The Children‘ treffend wiedergegeben: „Manchmal kochen wir nur eine Mahlzeit pro Woche - eine Suppe ohne Fleisch. Dazwischen essen wir ein bis zwei Mal am Tag Brot. Es macht mich traurig zu wissen, dass meine Kinder unterernährt sind, weil wir nichts zu essen haben, und ich weiß nicht, wie ich es schaffen könnte, dass es ihnen besser geht.“

 

Um Essen für die Familie zu bekommen, schicken die Eltern ihre Kinder zum Betteln auf die Straße. Auch die Mütter schleichen sich nachts zum Betteln hinaus. Viele bieten ihre Töchter schon im Alter von sieben oder acht Jahren zur Heirat an. Solche schmerzhaften Opfer tragen dazu bei, die Zahl derer, die ernährt werden müssen, zu verringern, und bringen manchmal auch Geld ein, das für den Kauf von Lebensmitteln verwendet werden kann.

 

Der andere Bericht, auf den ich letzte Woche aufmerksam wurde, war ein Videobeitrag auf ‚Democracy Now‘! über die Lage in der Demokratischen Republik Kongo. Die Moderatoren interviewten Jan Egeland, den Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats, der kürzlich von einem Besuch im Kongo zurückgekehrt war. Die Demokratische Republik Kongo steht vor der, wie Egeland es nennt, „weltweit größten Hungernot“, bei der 25 Millionen Menschen am Rande des Verhungerns stehen. Egeland bezeichnete die Krise im Kongo als „unvorstellbar“ und sagte: „In keinem anderen Land auf der Welt gibt es mehr als 25 Millionen Menschen, die unter Gewalt, Hunger, Krankheit und Missachtung leiden. Und nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine so geringe internationale Reaktion zur Hillfe, Unterstützung und Beendigung all des Leids.“

 

Die Wurzel des Problems, erklärt Egeland, ist die Gewalt, die das Land vor allem im Norden und Osten erfasst hat. Allein im Osten kämpfen 150 bewaffnete Gruppen um Land, und die Zivilbevölkerung mittendrin ist gezwungen, in kleinen Lagern Zuflucht zu suchen, wo die Menschen in bitterem Elend zusammengepfercht sind. Die humanitären Bemühungen zur Bewältigung der Krise sind stark unterfinanziert, nur ein Drittel der erforderlichen Mittel stehen zur Verfügung.

 

Egeland plädiert mit Nachdruck für mehr Hilfe: „Die Missachtung des Leids in der DR Kongo ist Teil einer klaffenden globalen Lücke zwischen den zugesagten Hilfsgeldern und dem Bedarf vor Ort. Überall auf der Welt nehmen die Finanzierungsdefizite ein immer größeres Ausmaß an, und Millionen von Menschen werden die grundlegenden Mittel zum Leben, insbesondere Nahrung, vorenthalten. Die Menschen im Osten der DR Kongo brauchen dringend die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft in finanzieller, politischer und diplomatischer Hinsicht, um die Lücke zu schließen.“

 

Solche dramatischen Hungersnöte gibt es keineswegs nur in Afghanistan und der DR Kongo. Sie sind nur zwei Brennpunkte in einem weiten Bogen des Hungers, der sich von der Mongolei und Myanmar im Osten über Südasien, das Horn von Afrika, die Sahelzone und den Atlantik bis nach Haiti und Mittelamerika ein erstreckt. Das WFP stellt fest, dass Konflikte, Wirtschaftskrisen, Klimakatastrophen und steigende Kosten für Düngemittel in Kombination zu einer Welternährungskrise von noch nie dagewesenem Ausmaß geführt haben, so dass heute fast 800 Millionen Menschen an chronischem Hunger leiden. Das WFP stellt uns mit deutlichen Worten vor die Wahl: „Handeln Sie jetzt, um Leben zu retten und in Lösungen zu investieren, die Ernährungssicherheit, Stabilität und Frieden für alle gewährleisten, oder sehen Sie zu, wie Menschen auf der ganzen Welt mit zunehmendem Hunger zu kämpfen haben.“

 

Um diese Krise abzuwenden, bedarf es einer konzertierten, entschlossenen und unablässigen Anstrengung seitens der internationalen Gemeinschaft, wobei die größte Verantwortung bei den wohlhabenden Nationen liegt, die ihren Anteil an der humanitären Hilfe unbedingt erhöhen müssen. Über die UNO müssen diese Länder auch zusammenarbeiten, um die Konflikte zu lösen, die die ärmeren Länder auseinanderreißen. Dem WFP zufolge sind Konflikte die Hauptursache für den Hunger und die Verarmung der Bevölkerung. Doch die Beziehungen zwischen den Weltmächten selbst sind durch zunehmende Spannungen belastet, so dass diese Bedingungen kaum erfüllbar scheinen.

 

Die reichen Länder beklagen sich oft darüber, dass sie nicht genügend Mittel haben, die sie für die internationalen Organisationen zur Bekämpfung des Hungers bereitstellen könnten, aber solche Klagen werden durch Statistiken widerlegt. Das Welternährungsprogramm (WFP) gibt an, dass es 25 Milliarden Dollar benötigt, um seinen Finanzbedarf für 2023 zu decken. Das mag viel Geld sein, aber es ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was die Großmächte für ihre Streitkräfte ausgeben. Im Jahr 2023 stellen die USA 877 Milliarden Dollar für ihr Militär bereit, China 292 Milliarden Dollar. Die gesamten weltweiten Militärausgaben belaufen sich derzeit auf über 2,24 Billionen Dollar. Könnten die großen Militärmächte nicht einmal 10 Prozent ihrer Militärausgaben einsparen und diese Mittel für Nahrungsmittelhilfe und Friedensinitiativen verwenden? Es ist zutiefst beschämend, dass viel mehr Geld für die Zerstörung von Leben ausgegeben wird als für die Erhaltung und den Schutz von Leben.

 

Aus buddhistischer Sicht offenbaren diese Verzerrungen unserer globalen Prioritäten den Einfluss, den die Geistesgifte – Gier, Hass, Verblendung und ihre Ableger – auf das menschliche Herz hat. Diese Gifte wirken nicht nur durch unser individuelles Bewusstsein, sondern auch durch die Systeme, Strukturen und Institutionen, die unserem gemeinsamen Leben zugrunde liegen. Was wir brauchen, um die schrecklichen Pandemien von Hunger, Armut und Gewalt – wie wir sie beispielsweise gerade in Afghanistan und im Kongo erleben – zu bekämpfen, ist ein unerschütterliches Bekenntnis zu den ethischen Geboten des Mitgefühls. Für Buddhistinnen und Buddhisten muss Mitgefühl mehr sein als nur ein schönes Gefühl oder eine erbauliche rhetorische Bekräftigung des Gelübdes, alle fühlenden Wesen zu retten. Mitgefühl muss mit einem Gefühl von Verantwortung und dem festen Versprechen verbunden sein, andere vom Leiden zu befreien. Von Mitgefühl können wir erst dann sprechen, wenn wir es in unserem Handeln zum Ausdruck bringen.

 

Das Bindeglied zwischen Mitgefühl als innerem Zustand und der Verpflichtung zu verantwortungsbewusstem Handeln ist Solidarität. Solidarität ist die Fähigkeit, sich mit anderen zu identifizieren und mit ihrem Schmerz und Leiden mitzufühlen. Solidarität beruht auf dem Verständnis, oder besser gesagt, auf der intuitiven Einsicht, dass andere im Wesentlichen wie wir selbst sind, dass die Unterschiede zwischen uns nur oberflächlich sind und dass wir im Grunde alle nach dem Gleichen streben: nach Glück, Sicherheit und Erfüllung. Wenn das Gefühl der Solidarität das Herz berührt, drückt sich das Mitgefühl in wirksamen, verändernden und befreienden Maßnahmen aus.

 

Die Lehren des Buddha geben uns die Werte und ethischen Ideale an die Hand, die wir brauchen, um die großen Krisen der Menschheit anzugehen, um die weltweiten Hungersnöte zu bekämpfen. Das ist der Grund unserer Arbeit bei Buddhist Global Relief und Mitgefühl in Aktion. Der Dharma bietet die moralischen Werte, wie sie in den vier sogenannten „göttlichen Verweilungen“ zum Ausdruck kommen: grenzenlose liebende Güte, Mitgefühl, Empathie und Unparteilichkeit. Der Dharma hebt die erhabene Tugend der Großzügigkeit (dāna-pāramitā) hervor und fordert uns auf, unser Leben aus Mitgefühl für die Welt (lokānukampā) zu leben. Unsere Aufgabe ist es, diese erhabenen Werte und Ideale als Ansporn zum Handeln zu nutzen. Dies kann durch Organisationen wie die BGR, die ‚Tzuchi Foundation‘, das ‚Clear View Project‘, die ‚Buddhist Peace Fellowship‘, MiA und andere, die sich für soziale Veränderungen einsetzen, geschehen. Aber wir sollten auch unsere Pflichten als Bürgerinnen und Bürger erfüllen. Unsere individuelle Stimme zählt, und wir sollten sie nutzen, um unsere gewählten Vertreterinnen und Vertreter, die Regierungen und internationalen Gremien aufzufordern, der Abschaffung von Hunger und Armut deutliche Priorität einzuräumen.

 

Veröffentlicht am 18. September 2023